Der andere Blickwinkel
Persönliche Ansichten unserer Welt- in Gedanken und Bildern.

Gendern wie man will?

Frau Dr. Mai Thi Nguyen-Kim setzt sich in dem Video 'Gendern wissenschaftlich geprüft' mit dem Gendern auseinander. Zunächst ist zu begrüßen, dass sie das Gender-Feld so unaufgeregt beackert, aber leider fehlen ein paar Aspekte, die von Bedeutung sind. Darum beleuchte ich das Gendern hier aus einem anderen Blickwinkel.

Gendern - eine Vorbemerkung

Kommunikation ist ein Phänomen. So ist es z.B. nicht möglich, eine Beleidigung einfach nicht zu hören, sie kommt zunächst an, ob man will oder nicht: wer spricht, zwingt Anwesende damit normalerweise, zuzuhören. Auch wer mit einem hochgestreckten Mittelfinger herumläuft, kommuniziert - Kommunikation kann übergriffig und gewalttätig sein.

Beim Sprechakt werden die beabsichtigten Inhalte und Aussagen in sprachliche Symbole umgewandelt, also encodiert. Dafür gibt es beliebig viele denkbare Möglichkeiten, so dass Sprecher und Zuhörer sich auf einen bestimmten Kodierungs-Mechanismus einigen müssen: die Sprache. Wer gendert, benutzt ein anderes Kodierungsschema als derjenige, der nicht gendert. Um das Gesprochene zu verstehen, muss der Zuhörer es wieder entschlüsseln, also decodieren. Das geschieht meist ganz unbemerkt, ist aber unvermeidbar - entscheidend ist: beim Hören oder Lesen gegenderter Sprache wird der Zuhörer gezwungen, den benutzten Decoder auszutauschen, wer gegenderte Sprache hört oder liest muss beim Decodieren selbst gendern. Der oft unternommene Versuch, Gendern mit der Behauptung zu verharmlosen, zum Gendern werde ja niemand gezwungen, ist damit als Trick entlarvt, die Behauptung einfach falsch: schon wer nur gegenderte Sprache hört, muss selber gendern, so wie jemand der Chinesisch verstehen will ja auch selber Chinesisch benutzen muss. Dass darüber hinaus große Personenkreise gezwungen werden, auch aktiv zu gendern - wofür es noch gar keine verbindlichen Regeln gibt - kommt noch dazu: In Schulen, Universitäten oder Ämtern werden Personen unter Androhung von Sanktionen auch zum aktiven Gendern gezwungen.

Die Antwort auf die Frage, wer, wann, wo gendern darf oder muss, ist damit nicht mehr beliebig, sondern bedarf einer Festlegung. Dafür muss als Erstes festgestellt werden, was Gendern genau ist. Man erkennt rasch, dass Gendern, also der Versuch, sich geschlechtergerecht auszudrücken, auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen erfolgen kann: Einerseits kann man im nativen Gendern die schon bisher genutzten sprachlichen Möglichkeiten einsetzen; so kann man z.B. statt von 'Bürgern' von 'Bürgerinnen und Bürgern' sprechen; und auch das Generische Maskulinum ist eine Form zu Gendern. Andererseits kann man aber auch disruptive Veränderungen an der Sprache vornehmen, also beispielsweise neue Zeichen und Regeln erfinden wie in 'Bürger*_:Innen'.

Mit einer Doppelnennung wie bei 'Bürger und Bürgerinnen' bewegt man sich im Rahmen der klassischen Sprache, man erfindet nichts Neues und die Aussage ist klar verständlich für jeden, der Deutsch spricht. Für diese Möglichkeit ist keine neue En- und Decodierung erforderlich.

Die zweite Form zu Gendern besteht in der Erfindung neuer Regeln, die das bisherige Regelwerk grundlegend brechen: es geht um die Unterbrechung von Begriffen mit nicht sprachlichen Zeichen wie '*', ':' '_' oder ein großgeschriebenes 'I'. Beispiele sind 'BürgerInnen', 'Forscher:innen', 'Sänger*Innen' und so weiter. Das ist im Rahmen klassischer En- und Decodierung falsch, bricht bekannte Regeln, erscheint willkürlich, ist nicht-sprachlich und damit disruptiv.

Somit erscheint es sinnvoll, zwischen klassischem Gendern - ohne neue Elemente und Regeln - einerseits, und disruptivem Gendern - mit neuen Zeichen und Regeln - andererseits zu unterscheiden.

Antwort an Frau Dr. Mai Thi Nguyen-Kim

Zunächst begrüße ich, dass Sie das Gender-Feld so unaufgeregt beackert haben; leider fehlen jedoch ein paar Aspekte, die von Bedeutung sind. Darum möchte ich meinen anderen Blickwinkel beisteuern

Wenn man die Gesellschaft verändern will, muss erst ein Mal erklärt werden, warum. Beim Gendern ist die Rede von Geschlechtergerechtigkeit - aber was ist Geschlechtergerechtigkeit? Im Raum steht die Behauptung, das generische Maskulinum würde Personen ausschließen; das ist aber per Definition nicht der Fall, es schließt im Gegenteil ALLE ein, das ist ja seine Absicht. Gemeint ist mit dem Vorwurf, es würde nicht alle einschließen, etwas ganz anderes, nämlich dass das generische Maskulinum nicht immer so einschließend verstanden wird, wie es gemeint ist. Das ist etwas ganz anderes! Dass das generische Maskulinum nicht immer so verstanden wird, wie es gemeint ist liegt daran, dass Sprache ganz wesentlich die Realität abbildet.

Ist es gerecht, wenn die Sprache nicht mehr die Realität wiedergibt sondern eine von bestimmten Gruppen erwünschte falsche Vorstellung der Wirklichkeit? Ist es ungerecht, eher an Männer zu denken, wenn es eher um Männer geht? Soll die Sprache als Werkzeug benutzt werden, um bestimmte Ziele durchzusetzen, die nicht einmal demokratisch gesetzt wurden? Ist es gerecht den Eindruck zu vermitteln, auf unseren Dächern, Gerüsten oder Straßen würden weibliche Bauarbeiter ihre Leben riskieren oder Teer schippen, wenn man da nur Männer sieht? Oder ist es nicht gerade richtig, dabei an Männer zu denken? Oder werden wir in Zukunft durch Gendersprache mehr Frauen in solchen Berufen sehen? Würde die Gesellschaft dadurch gerechter? Oder ist das gar nicht beabsichtigt, dass nicht mehr nur die Männer solche schmutzigen und gefährlichen Arbeiten erledigen? Bevor man sich über die Mittel unterhält, muss doch zunächst klar sein, ob das Ziel überhaupt für die Gesellschaft und nicht nur für wenige erstrebenswert ist.

Ein ganz wesentlicher Punkt sind dann die Kosten des Genderns. Messwerte von 10tel Sekunden Genauigkeit sind zwar etwas Schönes, aber die wichtigen Dinge im Leben sind oft nicht messbar. Gerade heute, wo 'Unwohlsein' eines Besuchers zum Abbruch von Konzerten führen kann, darf doch dass üble Gefühl, das bei toxisch gegenderter Sprache entsteht, nicht einfach ignoriert werden. Wenn ein alter Stadtkern zerstört wird, um neuen Wohnungen und Büro-Hochhäusern Platz zu machen, kann man zwar den Zuwachs an Miete, Preis und Gewinn messen, aber den Preis, den diejenigen zahlen müssen, die da bisher gelebt und gewohnt haben, nicht.

Meine persönliche Erfahrung ist, dass ich das Lesen oder Hören einiger übel gegenderter Texte und Artikel schon abgebrochen habe - nicht aus Trotz, sondern weil mir diese Zerstörung von Sprache Schmerzen bereitet hat und ich durch einen Wortverhau nicht mehr durch kam. Damit sind wir bei einem Kernpunkt: die Arten zu Gendern sind in ihrer Wirkung vielfältiger, als in Ihrer Untersuchung vorkommt. Es gibt Texte, die von 'die/der' 'eine/einer' etc. übersät sind und sich widersetzen, gelesen zu werden, weil sie offensiv, aggressiv und damit übergriffig gegendert wurden. Was ich dabei lese, ist die Haltung des Verfassers, und die besteht nicht in Gerechtigkeit sondern in einer Machtdemonstration; da erscheint der eigentliche Inhalt schnell zweitrangig. Wie kommt das?

Geschlechtergerechte Sprache reicht im Moment vom Generischen Maskulinum - das sogar nach Ihrer Definition alles das leistet, was man sich wünschen kann, nämlich wirklich ALLE meinen - über Paarformen - die Diverse Menschen explizit nicht ansprechen - über 'einer/eine' Konstruktionen bis zum Einbau von '*' etc. Und was wird alles gegendert? Es gibt, wie eine frühe Studie gezeigt hat, Begriffe ohne Gender-BIAS, bei denen Gendern nichts bringen kann, weil es keine Gender-Asymmetrie gibt, die beseitigt werden könnte (s. u. 'Dumm Gegendert'). So habe ich habe z.B. im TV von 'Teenager*Innen' gehört, von 'User:*Innen' und 'Gäst*Innen' gelesen! Sie nennen Beispiele aus Studien die zeigen, dass ohne zu Gendern manchmal falsche Geschlechter gehört werden. Daraus schließe ich, dass es Begriffe gibt, bei denen Gendern einen Zweck erfüllen könnte - auch wenn der Zweck nicht unbedingt gerechtfertigt sein muss, aber immerhin. Aber es gibt auch Begriffe, bei denen der Zweck des Genderns ausschließlich in der Provokation liegt, wenn nicht in hirnloser Anwendung ideologischer Glaubenssätze. Der ADAC schreibt 'Urlaubende' und im selben Satz auch 'Tagesausflügler' - mal gegendert und mal nicht. Schreiben da Hirnlosende?

'Mensch' also 'Der Mensch' ist ein Generisches Maskulinum - warum also nicht auch Mensch*Innen sagen? Das alles ist nicht geregelt sondern wird dem Gefühl überlassen - was Sie begrüßen, Sie sind für Freiheit und gegen Zwänge, weswegen Sie sich über Herrn Söder lustig machen weil er sagt, man solle anziehen, essen und sagen, was man wolle und dann das Gendern in Schulen und Ämtern verbietet. Sie sagen, Gendern solle der freien Wahl überlassen werden, aber das ist hier eben nicht möglich. Im Privaten zu sagen, was man will oder im Öffentlichen zu sprechen wie man will, das sind zwei Paar Schuhe, Äpfel und Birnen, und die kann man so nicht gleichsetzen.

Sie tun so, als gäbe es keinen Genderzwang, aber das ist leider falsch: Klausurnoten hängen davon ab, ob der Lehrer oder Dozent mein Gendern goutiert und natürlich zwingt jeder, der aktiv gendert, seine Zuhörer dazu, passiv zu gendern: wenn ich auf einen unlesbaren Wortverhau stoße, werde ich dazu gezwungen, zu gendern, um den mir wichtigen Inhalt erarbeiten zu können. Wer das nicht tut, bleibt außen vor, wer es tut leidet evtl. ziemlich unter der Sprache und dem Angriff, dem er ausgesetzt ist. Sie sprechen da von 'Haltung', aber die Vermittlung von Haltung kann verletzend gemeint sein, Haltung ist nicht per se gut. Und ob wir Meinungsverschiedenheiten aushalten müssen - wie Sie grundsätzlich richtig anmerken - sollte auch von den Konsequenzen abhängen; man muss nicht jede Meinungsverschiedenheit aushalten können.

Die Lösung

Dabei liegt die Lösung doch auf der Hand: Angenommen, es ginge wirklich um Geschlechtergerechtigkeit, was ja möglich ist. Dann geht es doch darum, dass sich alle 'Geschlechter' - in Wirklichkeit natürlich alle 'Gender' - in bestimmten Begriffen tatsächlich wiederfinden und auch wissen, dass sie von anderen Personen darin gesehen werden. Ein '*' tut das definitiv so lange nicht, bis eine entsprechende Vereinbarung getroffen wurde, er ist nicht selbsterklärend. Es geht also um eine Vereinbarung.

Ich habe niemals gelernt, was das Generische Maskulinum bedeutet und wie es gedacht ist, was also seine Vereinbarung ist; ich habe das aus dem Sprachgebrauch gelernt - darum auch spiegelt sich die Realität darin wieder und nicht die Absicht. Warum hat man mir erklärt, was ein Präteritum ist und ein Genitiv, aber niemals, wie das Generische Maskulinum gedacht ist und funktionieren soll? Das hätte man tun sollen.

Jetzt haben wir die Situation, dass es eine allgemein gültige Vereinbarung für das Generische Maskulinum gibt, die umfassend ist und alles leistet, was erfordert wird, die aber nicht jedem bekannt resp. geläufig ist: Studien die Sie referenzieren weisen geringe Unterschiede im Verständnis des Generischen Maskulinums nach. Und wir haben eine kleine Gruppe von Leuten, die zum gleichen Zweck etwas Neues erfunden hat, das von der Mehrheit nicht akzeptiert wird, weil es disruptiv ist, und für das es diese Vereinbarung darum nicht gibt. Da liegt die Lösung des Problems doch auf der Hand.

Wenn Gewöhnung das Problem lösen kann, wie Sie nahelegen, dann ist die einfachste und mit den geringsten Schmerzen verbundene Lösung doch, das Generische Maskulinum zu promoten, zu lehren, die Vereinbarung zu verbreiten und sich an dessen beabsichtigten Gebrauch zu gewöhnen! Wenn das Generische Maskulinum, wie Sie sagen, schon so definiert ist, dass alle gemeint sind, und die meisten Menschen es auch schon in diesem Sinne benutzen und verstehen, dann sollte dieses Wissen aktiv verbreitet und gelehrt werden - und in ein paar Jahren wäre das Problem ohne disruptive Sprachtechniken gelöst. Und um in bestimmten Fällen ein bestimmtes Geschlecht hervorzuheben, gibt es ja heute schon alle erforderlichen sprachlichen Mittel.

Wenn gewaltfreie Geschlechtergerechtigkeit aber gar nicht wirklich gewollt sein sollte, dann würde es ausreichen, den ganzen Wortschluss durch einen '*' zu ersetzen: statt Lehrer*Innen hieße es dann Lehrer*, gesprochen vielleicht 'Lehrers'. Nur, wenn ich mich richtig erinnere ging es den Feministinnen anfangs gar nicht um allgemeine Geschlechtergerechtigkeit sondern darum, dass so viele Worte auf 'er' endeten - da wollten sie 'in' oder 'innen' hören und lesen. Die diversen anderen 'Geschlechter' sind ihnen dann erst später eingefallen. 

Aber wenn es gar nicht um Geschlechtergerechtigkeit geht sondern um Macht und kontroverse Haltung, dann bleibt nur eine Lösung, die möglichst vielen 'normalen' Menschen weh tut: da können Bessermensch*Innende dann ihre Freiheit voll ausleben, Haltung zeigen - welche auch immer - und Macht demonstrieren; denn einem ganzen Volk eine unerwünschte Sprache aufzuzwingen, das hat viel mit Macht zu tun.

Dumm gegendert

Gegenderte Worte, bei denen kein Gender-BIAS, also keinerlei Unklarheit bzgl. der Geschlechtslosigkeit besteht, es geht ausschließlich um eine Machtdemonstration:
Demonstrant*innen (ZDF Heute 13. März 22)
Bürger:*Innen (ZDF Heute, 22.08.2022)
Schüler:*Innen (Twitter)
Teenager:*Innen (3Sat)
Patient:*Innen
Teilnehmende
Teilnehmer:*Innen (ZDF)
Besucher:*Innen (ZDF)
Pendler:*Innen (ZDF)
Protestierende
Anhänger:*Innen (3Sat, Scobel)
Emigrant:*Innen (3Sat Woher kommst Du eigentlich?)
Kolleg:*Innen
Spätaussiedler:*Innen (ARD alpha)
Freund:*Innen (ZDF Heute)
Konsument:*Innen (Moma, 21.09.2022)
Kund:*Innen (Jan Böhmermann, Twitter)
Japaner:*Innen (TV)
Covid Patient:*Innen (Panorama, HD24, 27.11.22)
Pioniere und Pionierinnen (Arte, e-Autos für alle)
Partner:*Innenschaft
Investor:*Innen (ARD Alpha Respekt, E-Autos für jeden)
Denker:*Innen (3Sat Klima und Energiekrise - Wer muss handeln?)
Konsument:*Innen (3Sat Klima und Energiekrise - Wer muss handeln?)
Bewohner:*Innen (ZDF Heute 06.02.23)
Täter:*Innen (ZDF Heute 06.02.23)
Verbraucher:*Innen (ARDalpha)
Kandidierende  (Welt)
User:*Innen, Respekt (alpha) 05.05.2023:
Nutzer:*Innen, Respekt (alpha) 05.05.2023:
Senior:*Innen, 45 Minuten, NDR
Tagesthemen 14.05.23, Katja Pietsch spricht von Wählenden
Betrachter:*Innen (Erfindung des Rassismus in Farbe)
Einwohner:*Innen
Gästinnen (Die Zeit)
Autofahrende (Die Bahn)
Atleth:*Innen (Respekt)
Sportler:*Innen (Respekt)
Berufsanfänger:*Innen
Arbeitgebende (Spiegel)
Kritiker:Innen (Hessenschau)
FHK-Bewohner_innenstatistik_2019
ADAC schreibt 'Urlaubende' aber im selben Satz auch 'Tagesausflügler' - schreiben da Hirnlosende?
Verkehrsteilnehmende im TV (ARD 12.09.23, 9:45 Uhr Live nach neun)
Zivilist:*Innen (TV)
Vertreter:*Innen
Chefs und Chefinnen (ZDF Heute, 11.03.22)
Zivilisten und Zivilistinnen (ZDF Heute, 22.08.2022)
Patrick Münz von der Hilfsorganisaton Cadus, hilft in Gaza und spricht in Heute, 30.03.2024 um 19:00 Uhr von Patientinnen und Zivilistinnen, hörbar nicht gegendert, meint aber verm. alle Geschlechter.

Stand: 12.06.2024